Text der Woche 04.09. - 10.09.2023


Sachlichkeit


Die sachliche Verhaltensweise ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nie zu einer völligen Hilflosigkeit oder zu einem Zusammenbruch führen kann. Da alle sachlichen Zwecke wieder als Mittel im Dienste der unendlichen Zweckhaftigkeit des Lebens stehen, können die Mittel nie erschöpft werden. Wer dem Infinalen dient, kann nie mittellos sein.

Man denke sich einen Großstädter, der des Sonntags einen Ausflug machen will. Wenn er frühmorgens auf den Bahnhof kommt, hört er, dass der Zug, auf den er rechnete, an diesem Tage nicht verkehrt. Je ichhafter er ist, um so gründlicher wird dieses Missgeschick ihm die Laune verderben.Denn das Ziel des ichhaften Menschen liegt fest. Wenn er es nicht erreichen kann, ist seine Herrscherwürde gekränkt, und nur mit einem großen Aufwand von Flüchen und Tränen kann er, gleichsam wie durch ein inneres Salutschießen, seiner gefährdeten Majestät wieder zu Ansehen verhelfen.

Der sachlich Eingestellte aber fragt sich, was er nun unternehmen könne. Er beschließt etwa, einen anderen Ausflug zu machen, und zwar mit einem Zuge, der eine halbe Stunde später fährt.

Es zeigt sich hier, dass Sachlichkeit auch gleichbedeutend ist mit Anpassungsfähigkeit. Der erste Ausflug, der vielleicht in den Wald gehen sollte, war ja nicht Endzweck, sondern er sollte als Mittel der Erholung dienen. Der gleiche Zweck, die Erholung, lässt sich aber durch ein anderes Mittel, z.B. durch einen Ausflug ans Wasser, ebenso gut erreichen. Je anpassungsfähiger der Mensch ist, um so mehr Mittel stehen ihm zur Verfügung, und um so weniger braucht er auf sein Ziel zu verzichten.

Aber nehmen wir an, ehe der zweite Zug abgehe, setze ein Unwetter ein und ein Ausflug sei überhaupt nicht mehr möglich. Dann würden wohl die meisten von uns niedergeschlagen oder verstimmt (und das heißt, in ihrer ichhaften Gottähnlichkeit gekränkt) nach Hause gehen. Je sachlicher man aber ist, um so leichter wird man sich in der neuen Lage zurechtfinden. Man wird sich, ohne viel Zeitverlust, an ein Buch setzen, oder man wird einen Besuch verabreden, oder man wird glücklich sein, nun endlich seine längst fälligen Briefschulden erledigen zu können.

Überall da, wo der Ichhafte einen Affekt, wie Zorn oder Niedergeschlagenheit, empfindet, zeigt sich beim Sachlichen eine zielsichere Tat. Der Ausflug (einerlei ob ans Wasser oder in den Wald) war ebenfalls nicht Endzweck, sondern nur ein Mittel im Dienste einer lebensvollen Gestaltung des Sonntags. Der gleiche Zweck lässt sich aber auch durch einen Besuch oder durch einen einsamen Nachmittag bei guten Büchern oder guten Briefen erreichen. Sobald ein Ziel nicht mehr verwirklicht werden kann, tritt die Frage auf, welchem übergeordneten Zwecke es als Mittel dienen sollte, und durch welche anderen, noch nicht unmöglich gewordenen Mittel dieser übergeordnete Zweck verwirklicht werden kann. So wird das Unglück, die Unerreichbarkeit eines Zieles, nachträglich zum Glück, nämlich zum Hervortreten neuer und höherer Zwecke, - aber nur für den sachlich eingestellten Menschen.

Schon das Auftauchen neuer Mittel im Dienste eines alten Zieles kann man als etwas Schöpferisches bezeichnen. Man nennt es meistens: gute Einfälle haben. Ist aber das Ziel unerreichbar geworden, so würde nur ein Ichhafter weiterhin daran festhalten. Er würde dem Unmöglichen nachtrauern, und sich aus seinem Kummer eine Märtyrerkrone machen. Denn seinem uneingestandenen Endzweck, der Ich-Erhöhung, dient der Schmerz über das nicht erreichte Ziel oft noch besser als der Stolz über das Erreichte (weil nämlich die Erreichung des Zieles eine neue Zielsetzung nötig machen würde, und dazu gehört ziemlich viel Sachlichkeit).

Dem sachlichen Menschen aber kann es an Zielen so wenig wie an Mitteln fehlen. Aus der unendlichen Pyramide der Zwecke, die in ihrer ganzen Unerschöpflichkeit jedem einzelnen von uns anvertraut ist, tritt dem Sachlichen jeweils das nächste Ziel ins Bewusstsein, wenn das bisherige erreicht oder unerreichbar geworden ist. Man nennt diese ewige Frische des lebendigen Menschen: Produktivität oder Originalität oder gar Genialität. Und man bildet sich ein, dass sie ein Vorrecht für einige Auserlesene wäre. Aber hinter dieser Ansicht versteckt sich schon eine Sicherung des lieben Ich. Denn wer zugeben würde, dass uns allen eine solche Produktivität innewohnt, wäre ja verpflichtet, seinen eigenen Mangel an Produktivität auf seine Ichhaftigkeit zurückzuführen; und das tut man nicht gern.

Man lasse sich durch den Ausdruck "Sachlichkeit" nicht verleiten, nur an trockene Pflichterfüllung zu denken. Sachlich, nämlich so, wie es die Sachlage verlangt, soll die Art des Funktionierens sein. Die Funktion, der Vorgang selber, wird dann meist zu einem Erlebnis, das nach dem heutigen Sprachgebrauch als das Gegenteil von sachlich empfunden wird, nämlich als urlebendig. Die sachliche Verhaltungsweise einem Menschen gegenüber ist die Menschlichkeit, und dem Geliebten gegenüber sachlich sein, heißt lieben.

Alle Stürme des Gefühls, die tiefste Trauer und die hellste Freude, gehören zu den sachlichen Verhaltungsweisen des Menschen, denn wenn sie echt sind, stehen sie im Dienste des Lebens, weil sie ausnahmslos zu Taten führen. Je mehr sie aber durch Ichhaftigkeit verfälscht werden, je mehr die Trauer zur Gekränktheit, zum Zorn oder zur Niedergeschlagenheit wird, und je mehr die Freude zum stolzen Triumph ausartet, um so mehr geht das Gefühl in den Affekt über, und um so unfruchtbarer muss es verlaufen.

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Man darf sich indessen ... nicht verführen lassen, nur denjenigen für sachlich oder sensibel zu halten, dessen Aufmerksamkeit und Tatkraft den Dingen des praktischen Lebens zugewandt ist. Der Ausdruck Sensibilität soll vielmehr darauf hinweisen, dass auch der feinfühlige Denker oder Künstler sachlich eingestellt sein kann, selbst wenn er so zurückgezogen lebt, dass ihn zeitweise nur die innere Schau noch mit der Welt verbindet. Entscheidend ist hier nicht, wo er seine Aufgabe sucht, sondern wie er sie in Angriff nimmt. Aber freilich sind die feinfühligsten Menschen auch am stärksten der Gefahr ausgesetzt, in Reizbarkeit zu verfallen und dadurch ihre Sachlichkeit zu verlieren.



(Fritz Künkel, Einführung in die Charakterkunde, Leipzig 1928)



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